Tag 12: Jokertag auf der Île de Sein

Wir sind ein wenig nervös, denn wir haben einen wirklich außergewöhnlichen Jokertag vor uns! Obwohl die Motorräder heute stehen bleiben, erwartet uns ein Abenteuer. Angelika hat zur Sicherheit schon vor Monaten die Tickets für die "Große Überfahrt" gekauft: Es geht auf die Île de Sein! Hoffentlich klappt alles...

Das Frühstück in unserem Wintergarten, das uns Lionels Gattin vorbereitet hatte, war legendär. Große, buttrige Croissants spielten dabei eine Hauptrolle! Jetzt stehen wir vor dem winzigen Steinhaus und warten auf unser Taxi, das Lionel - hoffentlich hat er uns verstanden! - gestern für uns bestellt hat. Der Hafen liegt etwa 4 km entfernt und wir wollen nicht zu Fuß gehen! Weil wir heute Bequemkleidung angezogen haben, ist das Motorrad auch keine echte Option...

Schlag 8.30 Uhr biegt der Wagen um die Ecke und ein baumlanger, auffallend gut aussehender Fahrer öffnet uns höflich die Türe. Er kennt den Weg ans Meer durch die winzigen Siedlungen wie seine Westentasche und es dauert nicht lange, da entwickelt sich unser höflicher Smalltalk zu einem ernsthaften und wirklich interessanten Gespräch. Was für ein cooler Papa mit Taxi und Motocross!

Nach 15 Minuten sind wir im kleinen Hafen von Saint-Évette angekommen. Dass wir hier richtig sind, erkennen wir umgehend an der respektablen Warteschlange, die sich bereits lange vor der Abfahrt vor dem winzigen Ticketschalter aufgebaut hat. Zum ersten Mal treffen wir auf dieser Reise einige Touristen! Wir stellen uns unschlüssig dazu, als Angelika aus den Augenwinkeln beobachtet, wie manche an einem futuristischen Automaten herumfummeln. Ein Ticketautomat?

Sie stellt sich diskret dazu und guckt einem netten älteren Herrn über die Schulter. Tatsächlich! Mit der Nummer auf dem Online-Voucher gibts hier Tickets ohne Wartezeit! Großvati freut sich, Angelika das Ding zu erklären und wird prompt mit einem strahlend-blonden Lächeln belohnt. Nur einen perfekt getuschten Wimpernschlag später streckt Angelika triumphierend zwei druckfrische Bootstickets in die Höhe ... na geht doch!

Es wird ein sonniger Tag, aber 17°C am offenen Meer fühlen sich nicht sommerlich warm an. Wir beginnen sogar, ein wenig zu frieren, als wir eine kleine Ewigkeit auf das "Boarding" warten. Zum Glück ist heute gutes Wetter! Bei rauhem Schlechtwetter wären wir jetzt am falschen Ort: Da ist die Abfahrt zur Île de Sein in Audierne zu gefährlich und wir müssten es in Douarnenez versuchen...

Wir vertreiben uns die Wartezeit mit Fotografieren und beobachten kräftige Männer in ihren robusten Arbeitsklamotten, die mit einem Kran unser Boot mit allerlei Waren beladen. Klar! Die kleine "Enez Sun" fährt nur einmal täglich auf die Insel und sonst gibt es keine Verbindung zum Festland! (Wahrscheinlich haben die Inselbewohner Privatboote für ihre Mobilität?)

Kaum haben wir das hochseetüchtige Boot geentert und zwei richtig gute Plätze am Heck erwischt, blubbern wir auch schon aus dem Hafen. Einige Möwen begleiten uns und wir fotografieren begeistert die Küstenlinie von Audierne. Hier herrscht Maskenpflicht aber bei der steifen Brise ist jedes wärmende Teil höchst willkommen!

Die "Enez Sun" nimmt schnell Fahrt auf und wir donnern das Cap Sizun entlang. Wir sehen die dürftige Vegetation der Halbinsel, die gen Westen noch schütterer wird. Hier leben nicht viele Menschen, nur winzige Häuschen ducken sich vor Wind und Wetter an die Felsen (>> Clip). Das Meer schäumt dunkelblau, als wir das Ende der Landspitze und das offene Meer erreichen.

Es ist soweit! Fotoapparate und Kameras werden gezückt und die gesamte Besatzung eilt nach Steuerbord, um die 70 m hohen Klippen zu sehen: Pointe du Raz! Einsam steht der Leuchtturm draussen vor dem Festland und trotzt Wind und Wetter. Wir lauschen, ob wir das Stöhnen ertrunkener Seeleute vernehmen können, die nach ihre Tod in die unterirdirschen Höhlen zurückgebracht wurden. Das Wikingerwort "Raz" heißt im Bretonischen nichts anderes als "gefährliche und abartig wilde Meeresströmung" und auch für uns wird die Fahrt mit dem Boot jetzt unruhiger.

Doch wir sehen da vorne bereits die ersten Häuschen von "Enez Sun", wie die Bretonen ihre sagenumwobene Île de Sein nennen! Ein winziges Eiland kommt ins Blickfeld, gerade mal 9 m über der Meereshöhe. Bei Unwetter bekommen die bunten Häuschen alle nasse Füße! Schon legt unser stolzes Boot beim Leuchtturm "Ar Men Brial" an und wir stolpern an Land.

Wir sind sofort verliebt. Was für ein bewegendes Gefühl, hier mitten draussen im Atlantik zu sein! Auf einer abgeschiedenen Insel, die nur von wenigen Dutzend Menschen bewohnt wird, auf der die Zeit stehengeblieben ist. Fischer und Handwerker leben hier in einer einträchtigen Gemeinschaft. Man hilft einander, wenn wieder einmal eine Sturmflut Steine auf die Häuser wirft oder die mächtige Schutzmauer im Westen schwächelt.

Frankreich ist weit weg, viel weiter als die neun Kilometer, die es faktisch sind, Sie werden es merken¹", meint Polizist Riwal zu seinem Chef Dupin und wir verstehen das. Es ist eine andere Welt hier. Es ist sehr ruhig, die wenigen Einheimischen sitzen an der Kaimauer im Sonnenschein, plaudern und lachen miteinander bei einem tönernen Krug voller honigfarbenem Cider. Man kennt sich. Eigensinnige und stolze Menschen leben auf dem winzigen Steinhaufen zwischen Frankreich und Amerika! Sie sind gewohnt, ihrem kargen Eiland das Lebensnotwendige abzutrotzen. Hier lebt man von Fischfang, etwas anderes gibt es kaum. Neuerdings kommen auch ein paar Touristen vorbei...

INFOBOX

Unbeeindruckt vom Rest der Welt liegt die winzige Ile de Sein, Hauptschauplatz in „Bretonische Flut“, im Süden des Parc d‘Iroise und bewahrt sich ihren ganz eigenen Charakter. (...) Kleine bunte Häuser und ein grün-weißer Leuchtturm empfangen die Besucher an der Anlegestelle der Insel. In den urigen Kneipen entlang der Küste gibt es frischen Hummer, dazu einen freien Blick auf das smaragdgrüne Meer.

Mit ihren knapp zwei Kilometern Länge lässt sich die schmale Insel bequem zu Fuß erkunden. Nur vier Autos fahren auf der Insel: Zwei Feuerwehrautos, ein Krankenwagen und ein Tankwagen. Nur 220 Menschen wohnen auf der weniger als einen Quadratkilometer kleinen Ile de Sein. Im Sommer kommen ein paar Touristen und vor allem urlaubende Schiffskapitäne aus der Bretagne hinzu, die hier „im Meer“ gern ihre Ferien verbringen. Die Inselbewohner sind entweder bereits Rentner oder leben hauptsächlich von der Fischerei und dem Tourismus.

Gastfreundschaft und Mut zeichnen die kernigen Insulaner aus. Im Jahr 1940 blieben neben Frauen und Kindern nur der Pfarrer und der Leuchtturmwärter auf der Insel. Alle anderen Männer waren mit ihren Fischerbooten hinüber nach England geschippert und schlossen sich 1940 der Widerstandsbewegung um Charles de Gaulle an. Sie bildeten somit einen großen Teil der ersten Truppe: „Wie viel seid ihr?“ „124, Herr General!“ „Sein ist also ein Viertel Frankreichs!“ Die Insel ist deshalb auch eine von fünf Gemeinden in ganz Frankreich, die den „Ordre de la Libération“ trägt.

Hinter den Deichen drängen sich verschachtelte, schmale Gassen. Manche sind nicht breiter als ein Holzfass. So können Wind und Sturm nicht ungebremst durch die Straßen pfeifen. (...) Zahlreiche Legenden ranken sich um die Insel: So z.B. die der neun guten Hexen, die mit Zauberer Merlin eng befreundet waren und einst sogar König Artus von einer schweren Verletzung geheilt haben sollen.
(In: https://www.bretagne-reisen.de/urlaubsvorbereitung/urlaub-a-la-carte/rundreisen-in-der-bretagne/auf-den-spuren-kommissar-dupins/)

Die wenigen Touristen zerstreuen sich schnell in alle Winde. Jetzt will Angelika für Didi zuerst ein feines Geburtstagsessen im legendären Hotel "Ar Men" ausrichten. Die Insel besichtigen wir danach. Wir haben 5 Stunden Zeit!

Wir schlendern durch die sehr engen Gassen, deren Wirrwarr Sturm und Wetter abhalten sollen und nur wenige Minuten später stehen wir am anderen Ende der Insel. Die Sonne scheint vom blitzblauen Himmel und uns ist warm geworden! Schon sehen wir das berühmte Hotel und den enormen Leuchtturm "Grand Phare", in dem Strom und Trinkwasser für die Insel erzeugt werden, ganz weit draußen.

Doch, was für eine Enttäuschung! Ausgerechnet heute Mittwoch hat das Restaurant geschlossen? Verdammt, wir haben uns doch so auf ein nobles Essen hier gefreut! Ein leckerer Hummer im "Ar Men", mit 4.000 km das am nächsten zu Amerika gelegene Restaurant Frankreichs, wäre toll gewesen!

Aber an diesem besonderen Ort kann nichts unsere Stimmung trüben und so stiefeln wir mehrmals quer über die Insel und schauen uns um: Die hübsche Kirche mit den zwei Hinkelsteinen, an jeder Ecke ein Leuchtturm und bunte Blumen in jedem Vorgarten. Hinter jedem Haus sieht man die Unendlichkeit des Atlantiks und es ist einfach unvorstellbar anders als alles, was wir bisher gesehen haben.

Wir brauchen noch Postkarten für die Lieben daheim! Hier ist der perfekte Ort, um Ansichtskarten zu kaufen! Wir finden ein unscheinbares Häuschen, an dessen Wand ein vergilbtes Postzeichen hängt. Wir klopfen an und treten vorsichtig ein. Schüchtern stehen wir mitten in einer hübschen Küche. Die Dame des Hauses rührt gerade am Herd in einem großen Topf.

Sie dreht sich schwungvoll zu uns um und während sie zum Küchentisch tritt, wischt sie sich ihre Hände eilfertig an der Schürze sauber. Ja, hier ist das Postamt. Ja, sie hat auch Karten. Wieviele wir brauchen? Wir fangen uns schnell und kaufen der lieben Omi 25 Stück wunderschöne Postkarten und Briefmarken ab. Noch bevor wir alles eingepackt haben, rührt die Postbedienstete weiter ihren duftenden Eintopf. Das verrückteste Postamt, das wir je besuchten? Ja, wahrscheinlich!

Ein paar Schritte später stehen wir wieder im Hafen und Hunger haben wir auch. Aber was ist das? Die wenigen Tische in den kleinen Restaurants sind alle schon besetzt! Haben die anderen Gäste sofort nach der Ankunft alle Plätze mit ihren Handtüchern reserviert?

Nun, dann eben Wein! Wir sitzen lange an der Mole, schauen aufs Meer hinaus und lassen die Augen und die Gedanken schweifen. Was für ein kleiner und beschaulicher Ort! Die Sénans lächeln uns freundlich zu und manch einer hebt im Vorbeigehen grüßend sein mitgeführtes Glas Wein. Es ist warm geworden! An der weißgetünchten Hausmauer fühlen wir uns bei windstillen 23°C richtig sommerlich!

Erst viel später machen wir uns wieder auf den Weg, um etwas Essbares zu finden. Wir haben bei einem winzigen Bistro Glück! Die bretonischen Galettes schmecken herausragend und passen perfekt zu dem süßen Cider, den man uns im schweren Ein-Liter-Gebinde aus Steingut hinstellt. Dazu der Blick auf die bunten Häuser und den tiefblauen Atlantik nur wenige Schritte von uns entfernt. Ein Geburtstagsessen der ganz besonderen Art!

Satt und zufrieden umrunden wir noch einmal die winzige Insel und saugen alle Eindrücke in uns auf. Wir finden sogar ein grandioses Souvenir! In einem mit Muscheln auffällig dekorierten Häuschen bastelt und malt ein graubärtiger Künstler allerlei Schönes. Draussen sitzen seine Freunde bei einem Glas Wein im Sonnenschein. Er bittet uns einzutreten und schenkt uns einen Becher Cider ein. Mit blitzenden Augen erklärt er uns die Motive seiner geliebten Inselheimat, die er in sentimentalen Aquarellfarben zu Papier gebracht hat. So ein Bild müssen wir haben! Während er das Werk sorgfältig einpackt, schlürfen wir sein Gastgeschenk und sind mit uns und der Welt im Reinen.

Jetzt ist der Tag perfekt! Noch ein leckerer Kaffee und noch ein Glas Wein im Sonnenschein an der Bootsanlegestelle und schon sehen wir unser Schiff, das uns abholen soll. Doch es gibt noch eine Verzögerung! Mit Blaulicht kommt ein Krankenwagen um die Kurve und ein Bedauernswerter wird herausgehoben. Tourist oder Einheimischer? Wir wissen es nicht. Es muss wohl etwas Ernsthaftes passiert sein, wenn eines der vier Autos der Insel gestartet wird!

Der arme Mann wird nun behutsam in ein Schnellboot der Seenotrettung aus Audierne verladen und kaum ist alles festgezurrt, schießt das PS-starke Schiff auch schon hinüber aufs Festland. Jetzt wissen wir, wie die ernsteren Kapitel des Insellebens hier organisiert sind...

Unsere Überfahrt ist unauffällig und ruhig. Der Sturm hat sich in den Abendstunden gelegt und - so wie auch die meisten Anderen - dösen wir ein und verschlafen die Fahrt nach Audierne in der Sommerhitze (>> Clip). Um 18.00 Uhr gehen wir wieder an Land. Bereits vom Boot aus haben wir unseren Taxifahrer winken gesehen! Er kennt den Stundenplan des Bootes und hat versprochen, uns abzuholen!

Wir lassen uns nicht gleich zu unserem Zimmer bringen, sondern wir steigen bei einer kleinen Boulangerie aus. Wir haben gestern diese Bäckerei entdeckt und uns die Nasen am Fenster plattgedrückt. Wir lassen uns eine bunte Mischung köstlich-saftiger Mini-Quiches und etwas Süßes einpacken. Heute gibt es ein besonderes Abendessen!

Unser Gastgeber kommt etwas später von der Arbeit, er scheint müde, als er zu uns rüber winkt. Er schenkt uns grinsend zwei Aufkleber für unsere Motorräder: " Les Sauveteurs en Mer / Audierne" steht auf dem schmucken Abzeichen. Lionel arbeitet bei der Seenotrettung und hat uns heute während seinem Einsatz drüben auf der Insel gesehen! Wow, das ist ja cool! Wir sitzen nach dem leckeren Essen noch lange auf unserer winzigen Terrasse im wunderschönen Garten und schweigen in die Stille. Was für ein bewegender, besonderer Tag!

Morgen fahren wir weiter: >>  klick

¹) Bannalec, Jean-Luc (2016): Bretonische Flut, Kommissar Dupins 5. Fall, Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Wir besuchen ein winziges Paradies!

Sprachlos

Ich bin sprachlos über diesen Bericht! Wie besonders war das, so eine Insel zu besuchen. Ich habe mir euren Bericht kopiert, falls ich mal dorthin komme. Wir müssen das unbedingt auch machen!
Grüße
TinA

Antw.:Sprachlos

Das war schon sehr besonders dort!
LG Geli

Was Feines

Moin Moin,
Das ist doch was Feines mit der kleinen Insel. Das mag ich :) Sieht alles so hübsch und gemütlich aus! Nun und was Süßes zum Schluss darf nicht fehlen, nä:))
Ich wünsche euch, dass ihr in diesem Jahr wieder so schöne Genusstouren machen könnt! Auch wenn ich eher ein Kulturmuffel bin, liebe ich die Pausen an netten Plätzen im gemütlichen Café. Und was Süßes gehört auch dazu, zwinker.
Habt einen guten Start ins neue Jahr!!
Nordischen Neujahrsgruß
Wibi

Antw.:Was Feines

Hallo!

Die Insel war ein Erlebnis, das Andere eben...gerade für uns, wo sich die Alpen vor der Haustür präsentieren!
Danke für die netten Worte und auch wir wünschen Glück, Zufriedenheit, natürlich auch eine erfolgreiche Motorradsaison und vor allem Gesundheit im neuen Jahr.

GLG Didi & Geli

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zuletzt aktualisiert am 13.11.2024