Tourism kills the city! - eine Provokation
Es war an einem wunderschönen, sonnigen Junitag 2018, als wir auf der Durchreise in Geiranger Kaffee trinken wollten. Wie schon im Jahr zuvor, als der norwegische Ort ein ruhiges, stilles, romantisches Plätzchen war. Wir scheiterten an den 3.454 Kreuzfahrtouristen der MS Aurora und der MS Rotterdam, die das Dörfchen und alle Cafés fluteten. Die riesigen Pötte lagen mit laufenden Motoren im Hafen und ruinierten buchstäblich jede Aussicht auf den Fjord. Was für eine Enttäuschung!
Geiranger ist ein winziger Ort mit 250 Einwohnern, die unter schwierigsten Bedingungen von Landwirtschaft und Fischfang lebten. Heute zählt der Fjord zum Welterbe und als einer der schönsten Norwegens. Nicht nur die traditionellen Hurtigruten, sondern nahezu jedes Kreuzfahrtschiff in Norwegen hat diesen Fjord als Pflichtprogramm. Täglich sind hier 10-20x soviele Touristen als Einheimische unterwegs!
Wohl jeder Tourist sucht hier die dramatische Einsamkeit und Abgelegenheit des Fjords, die berühmte Postkartenansicht, Authentizität! Tourismus ist ein großes "business" geworden, für jeden leistbar! Wenn er dann an der Hafenkante steht, stehen Tausende mit ihm hier und die riesigen schwimmenden Pötte versperren genau die Aussicht, die er gesucht hat! Das Geiranger, das alle suchen, das gibt es sommers längst nicht mehr.
"Touristen zerstören das, was sie suchen, indem sie es finden"... (© Svenja Svendura) Dieses Problem stellt sich nicht nur hier.
In vielen der berühmtesten Destinationen wendet sich daher bereits die Bevölkerung gegen die Zerstörungen durch den Tourismus.
Venedig, Marseille, Dubrovnik und andere bekämpfen bereits den überbordenden Kreuzfahrttourismus. Man kann das verstehen. In Venedig werden durch den Wellenschlag dieser Riesenpötte in der Lagune die fragilen Fundamente der Stadt im Wasser ruiniert.
In Marseille bläst ein einziges Schiff im Hafen in wenigen Stunden mehr Dreck in die Stadt, als alle PKWs in der Stadt pro Monat! (Und dort landet nicht nur ein Schiff pro Tag...).
In Norwegen ist die Umweltbelastung durch in den Fjord gekippten Müll zu groß geworden! Die sensible Natur erholt sich nicht mehr ...
Städte wie Venedig, Barcelona oder Dubrovnik halten dem Ansturm durch Touristen kaum noch stand – Einwohner und traditionelle Läden werden verdrängt. Die Nahversorgung stirbt. Wohnraum für Bewohner wird knapp und teuer. Gentrifizierung durch Touristen -> Touristifizierung!
Das stößt inzwischen auf Widerstand bei den Bürgern. Ähnliches liest man aus Florenz, Neapel, Rom, Wien, Korfu, Sevilla, New York City...
Es gibt daher immer mehr Beschränkungen des Massentourismus. Touristiker und Einwohner kämpfen gegen den "overtourism" und manchmal gegen die Touristen selbst...
- Seit heuer ist das berühmte Sellajoch in den Dolomiten stundenweise für Kraftfahrzeuge gesperrt.
- Norwegen will noch heuer den Geiranger- und den Naerøyfjord zumindest für alte Kreuzfahrtschiffe sperren.
- In Hallstatt/Österreich verbietet ein stählerner Schranken die Einfahrt und versucht so, die Touristenströme zu lenken. "A toter Chinese is gnuag."
- In Venedig werden verpflichtende Online-Voranmeldung für den Stadtbesuch und Gebührenpflicht oder Sperren berühmter Plätze angedacht.
- In Mallorca gehen die Menschen bereits gegen die Touristen auf die Strasse: "Tourism kills the city!" Die Stadtverwaltung in Palma reagiert mit künstlicher Bettenreduzierung für den Tourismus und massiven Strafen für illegale Vermietung.
- Barcelona testet Apps, Tools und Sonderangebote, um Touristen von der Rambla weg zu leiten. Wohnraum wird immer knapper. Die Zeit drängt, es gab schon wüste Straßenschlachten.
- In New York sollen Touristen "ausserhalb der Saison" mit Sonderangeboten angelockt werden.
- Die Stadt Wien will auf Qualitätstourismus setzen. Es droht die Gefahr, dass die letzten Bewohner der historischen Innenstadt wegziehen und somit die Disneyfizierung.
- Island hat seit 2018 Beschränkungen beim "Wildcampen", weil die Touristen buchstäblich das Land verschei ***n. Ja, genau das!
- In Dubrovnik dürfen nie mehr als 8.000 Besucher gleichzeitig in der Stadt sein. Den Einwohnern wird übers TV mitgeteilt, wann und wo Touristenmassen unterwegs sind, um ihnen ausweichen zu können.
- Im Offroad-Paradies Rumänien gibt es bereits die ersten Petitionen gegen diese Art von Tourismus, v.a. im Zusammenhang mit veranstalteten Wettkämpfen. Die Zerstörung der Landschaft nimmt langsam aber stetig zu.
- In Georgien kämpft man mit illegalem Bauwesen. Hotels werden aus dem Boden gestampft und dabei wertvolles Ackerland vernichtet. Es gibt die ersten Probleme mit der lokalen Nahrungsmittelversorgung.
Dieser Artikel beschreibt detailliert die Probleme zahlreicher Orte und Länder. Manches überrascht und manches nicht: "Overtourism plagues great destinations"
Diese Liste lässt sich noch lange fortsetzen. Seit 2017 ist dieses Thema auch verstärkt in den Medien wahrnehmbar. So widmet sich am 20.9.2018 erneut eine Doku dem Thema "Hallstatt" und den 10.000 Touristen, die täglich das 700-Einwohner-Dorf stürmen...
Ok, aber es gibt doch eine leichte Lösung?! Verbieten, aussperren, abschaffen! Sorry, aber das Rad der Zeit dreht niemand zurück. So wie die Bevölkerung an den Massen-Hotspots leidet, genau so lebt sie davon. Nicht nur in Geiranger lebt man ausschließlich vom Tourismus. Auch Venedig wäre ohne Tourismus tot - die Zeit als Seeweltmacht sind lange Geschichte. In Spanien sind 33% aller Jugendlichen arbeitslos, in Griechenland noch etwas mehr. Will man weitere Arbeitsplätze vernichten?
Es ist naiv zu glauben, dass in Geiranger Menschen wieder von der Landwirtschaft leben können. Dass die Bewohner der Dolomiten zu ihren bergbäuerlichen Wurzeln zurückkehren und Hallstätter sich wieder auf Salzbergbau und Fischfang verlassen können. (Ach ja und Wien hat auch keinen Kaiser mehr, der die Innenstadtpalais mit Prunk und Pomp füllen könnte.) Dieser Drops ist gelutscht.
Aber nun zu uns Motorradreisenden! Zu uns Individualreisenden.
Schon klar. Uns geht das nichts an! Wir sitzen nicht in Bussen, die uns zum Billigpauschal irgendwohin karren. Wir ruinieren nicht Arbeitsplätze und ganze Branchen durch die Vielfliegerei zu Dumpingpreisen. Oh, niemals würden wir so einen Riesenpott von Kreuzfahrtschiff besteigen und uns mit den anderen Touristen zu einem Massenurlaub einfinden!
/sarcasm off
Wir suchen Individualität und sind stolz darauf! Wir sind keine Touristen, wir sind Abenteurer. Reisende! Entdecker! Einsame Erforscher unbekannter Welten! "Off the beaten tracks" nennen wir unsere Trampelpfade und manchmal - ja das liest und hört man - verachten wir sogar Billig-Pauschal-All-Inclusive-Urlauber. Wir sind ganz anders!
Wer noch nie angesichts einer Busladung von Touristen im Land "Far far away" sein schmutziges Offroad-Textil besonders stolz trug. Wer noch nie sein Motorrad in der Wildnis fotografierte und notfalls einen Bildausschnitt ohne "touristische Merkmale" wählte. Wer noch nie wartete, bis auf dem Foto auch der letzte Tourist endlich zur Seite ging. Der werfe den ersten Stein.
Wir sind doch keine Touristen, wir sind Gäste! Gern gesehene Gäste. Klar soweit?
Wir sprachen auf unseren Reisen mit vielen, die von Touristen leben. Es stimmt schon. Motorradreisende sind oft beliebter als die Lenker "Weißer Ware" (Anm.: Bezeichnung für Wohnmobile) oder gar Kreuzfahrttouristen. Diese Touristengruppen bringen nämlich weniger Geld ins Land.
Motorradreisende müssen auswärts essen oder sich sonstwie selbstversorgen. Sie haben abends kein All-Inclusive-Buffet an Bord oder das Fahrzeug mit Dosenfutter vom heimatlichen Diskonter vollgepackt. Sie müssen für jede Übernachtung zahlen. Ja, auch Zelt kostet Stellplatzgebühr und "Wildcampen" geht immer seltener. Sie bringen insgesamt mehr Geld und sie sind weniger und selten in Gruppen.
Aber Achtung, jetzt wirds "tricky"! Die Stimmen unter den Tourismuskritikern mehren sich, dass die Individualtouristen einem Hotspot mehr Schaden zufügen können, als die Massentouristen! Letztere bleiben nämlich in ihrem für sie geschaffenen "Ghetto" und beeinträchtigen die Strukturen einer Stadt wenig.
Es sind die Individualisten, die so stolz auf ihre authentischen Erlebnisse sind, die das Leben Einheimischer mehr beeinträchtigen als die Pauschalreisegruppen. Die auch jeden noch so versteckten Winkel erobern - und touristifizieren. Spätestens, wenn die Mieten in manchen Städten wegen der überhand nehmenden AirBnB-Kultur steigen (Barcelona), kaputte Strände (Mallorca), öffentliche Verkehrsmittel (Venedig) und Müllentsorgung (Island) durch Individualreisende zum Problem werden.
Den Experten zufolge scheint Fakt zu sein: Individualtouristen zerstören den Wohnungsmarkt für Einheimische (zB Barcelona), ruinieren die Natur (zB Rumänien), generieren überbordenden Verkehr (zB Sella Ronda) und auch die erstmaligen Einschränkungen des Wildcampens in Island wurde ausgesprochen, weil alleinreisende Abenteurer "pooped up the country", wie lokale Zeitungen berichteten. Dass auch geheime Winkel in der Insta-Zeit nicht lange geheim bleiben, kommt längerfristig noch dazu.
Touristifizierung ist Gentrifizierung durch Fremde, auch wenn diese sich nicht davon angesprochen fühlen, fühlen sie sich doch als erwünschte Ausnahme vom Massentourismus.
Ok, und was nun?
Immer mehr Gegenden leiden unter überhand nehmendem Tourismus, der die gewachsenen Strukturen nachhaltig zerstört. Gleichzeitig ist der Tourismus aber fast die einzige Einnahmequelle weniger verbliebener Einheimischer! Oft in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit.
Was ist die Konsequenz? Disneyland statt authentisches Dorf? Tourismus-Hotspot statt althergebrachte Lebensweise der Bevölkerung? Geben wir besondere Gegenden auf und widmen wir sie dem Konsum und dem Ausverkauf? Oder soll Reisen wieder so teuer werden, dass es - wie früher - nur für die Eliten leistbar ist? (Ihr wisst, woher die Bezeichnung "Jet-Set" kommt.) Das kann doch keine Lösung sein, aber eine Idee haben wir auch nicht.
Als Motorradreisende suchen wir oft Einsamkeit und Ruhe. Touristenströme und -trubel bei bekannten Hotspots gehen uns meist auf die Nerven und stören unsere Kreise. Gleichzeitig wissen wir natürlich, dass auch wir ein Teil davon sind! Diesen Widerspruch können wir nicht lösen...
So, genug der Provokation. Wir sind auf eure Meinungen dazu gespannt!
PS.: Ich habe mir erlaubt, die Kommentare zum Thema von Svenja und Heike der Übersicht halber hier her zu kopieren...
Für euren Kommentar ganz hinunterscrollen!
edit 13.12.2018: "Wien darf nicht Hallstatt werden". Wenn AirBnB den Wohnraum verknappt und Orte überfüllt sind, dann ist Feuer am Dach... (Ein aktueller Bericht aus unserer Heimatstadt.)