Den sonnigen Sommerabend gestern noch vor Augen, ziehen wir die dichten Vorhänge in unserem Zimmer zu Seite. Klasse! Das Schönwetter hat gehalten! Wir sehen am blauen Himmel nur ein paar weiße Dekorwolken und es hat 13°C! Wir packen unsere Siebensachen zusammen und bauen uns in der modernen Gemeinschaftsküche ein Frühstück.
Außer uns sind nur zwei schwedische Arbeiter da, die ihre schmutzige Montur bereits angelegt haben. Obwohl hier alles zur freien Entnahme aufgebaut ist, funktioniert das System - jeder nimmt sich nur einen rücksichtsvollen Anteil. Wir basteln uns Käseschinkenbrötchen und nehmen reichlich vom Kaffee (Didi) und Orangensaft (Angelika).
Um 9:15 werfen wir den Zimmerschlüssel in die Box bei der Türe und klettern auf die Transalps. Wir nehmen die E4, die wir über eine hübsche Deichbrücke über den Yttre Fjärden erreichen. Wir beeilen uns, denn in Luleå gibts etwas Historisches zu sehen. Heike H. empfahl auch einen Blick auf die Eisbrecher im Hafen.
Die E4/R94 zieht sich in endlosen Geraden durch dichte Wälder dahin. Nadelbäume, vielleicht Föhren, und hellgrüne Birkenwälder überwiegen hier in der einsamen Provinz Norrbotten. Wir sehen viele große und kleine Seen und Buchten: Wir cruisen die Riviera des Nordens gemütlich entlang bis Luleå.
Noch ein kurzes Stück über die Rv94 und schon tuckern wir an einem weitläufigen Friedhof vorbei. Wir sehen aus den Augenwinkeln die gepflegten Gräber und einige Menschen, die die Gedenkstätte ihrer Lieben mit frischen Blumen schmücken. Plötzlich sind wir da: Gammelstad! Das UNESCO-Weltkulturerbe ist unser erstes Ziel heute!
Gammelstad ist Schwedens größte Kirchenstadt. Im 16. Jhdt. war der wöchentliche Kirchgang Pflicht. Weil die Bauern aus dem weitläufigen Einzugsgebiet den Weg zur Nederluleå-Kirche und nach Hause nicht an einem Tag schaffen konnten, bauten sie neben der Kirche kleine, sehr einfache Häuschen zum Übernachten. So entstand langsam eine ganze Kirchenstadt.
Die Menschen waren fromm, sehnten sich jedoch auch nach Spass und Unterhaltung! Aus der Kirchenstadt wurde bald ein sozialer Treffpunkt. So öffneten in Gammelstad bald einige Gasthäuser. Und ein Friseur und ein Schneider siedelten sich an, so dass sich die Mädchen für den Gasthausbesuch auch hübsch machen konnten. Mit Erfolg, denn viele Ehen kamen an diesem Ort zustande!
Die kleine Stadt ist perfekt erhalten, es gibt viele Attraktionen und Aktionen zum Mitmachen. Gammelstad ist teilweise bewohnt und die Leute in Luleå halten viele alte Kirchenbräuche dort lebendig.
Wir tuckern langsam durch die uralten und engen Gässchen mit den falunroten Häuschen. Die alte Stadt Luleå wurde vor etwa 700 Jahren hier gegründet und übersiedelte erst viel später dorthin, wo sie heute steht. Alles schaut en miniature aus, wie Puppenhäuser!
Wir sind die einzigen Gäste hier. Nur ein paar Gärtner bringen die hübschen Vorgärten der Kirche in Ordnung. Alles wird für den sommerlichen Touristenansturm vorbereitet. Wir fahren ein bisschen herum und halten auf dem schmucken Kirchenplatz (>>> Clip)
Leider hat die mittelalterliche Kirche ebenso wie das Besucherzentrum noch geschlossen. Das ist wohl der Preis für die touristenfreie Vorsaison! Wir rollen den Rutviksvägen langsam bergab. Diese Häuserreihen aus identisch-roten Hütten sind wirklich wunderschön! Am Parkplatz des Hägnan Freilichtmuseums lassen wir die Transalps stehen.
Heute fehlt uns jedoch die Geduld für einen längeren Spaziergang. Stattdessen kaufen wir im Lapland-Shop ein hübsches Guksi aus roh bearbeitetem Ton. Mit dem eingeritzten G+ wird es uns zuhause an die frommen Menschen von damals erinnern, die nach dem Kirchgang beim Frühschoppen so richtig zu feiern wussten.
Die nächsten 80 km auf der E4 gen Norden verlaufen ereignislos. Kann es sein, dass die dichten Wälder hier an der Bottnischen Wiek langsam niedriger werden? Während wir den Kalixälven überqueren, sehen wir die schicke rote Holzkirche von Kalix. Angelika sinniert, welches Möbelstück man nach dem Ort benennen könnte, während wir dösend den breiten Fluß entlang cruisen.
Um Punkt 12:00 verlassen wir endlich die E4, auf der wir nun einige Tage verbracht haben! Wir biegen auf den Rv398 ab und halten gleich danach in einer Parkbucht. Wir essen ein wenig Lakritz und trinken vom lauwarmen Elixier in den Thermosflaschen. Wir hoffen auf eine abwechslungsreichere Strecke in den Norden!
Abwechslungsreich? Die schmale Straße führt nun in endlosen Geraden geradewegs ins Nichts. Weite Felder, niedrige Wälder und nicht immer existiert der Ort, der auf der Karte verzeichnet ist. Oft gebührt einer einzelnen Jagdhütte die Ehre, einen Ortsnamen zu besitzen.
Es ist eine einsame Gegend, auf der wir ruhig unsere Bahnen ziehen. Die Sonne scheint und das Rot der wenigen Hütten am Straßenrand bildet hübsche Farbtupfer auf dem unendlichen Grün. Uns fällt auf: Wir hatten seit dem Frühstück keinen Kaffee! Aber wo sollen wir hier ein Café finden?
Nach 50 km erreichen wir Hedenäset. Der erste Ort im Nirgendwo, der diese Bezeichnung verdient. Und schau! Da hängt an einem Baum ein handgeschriebenes Schild: "Sten Café - öppet alla dagar, 300 m". Wir folgen dieser Verheißung und tuckern über tiefen Schotter mitten in eine ruhige Wohnsiedlung.
Eine dicke Katze im Schaukelstuhl beobachtet uns gelangweilt, als wir vor ihrem Haus parken und uns umschauen. Wo ist hier das Steincafé? Oh, hier sind wir richtig! Wir lesen gerade das liebevoll gemalte Schild an der Hütte im Garten, als ein baumlanger Mann aus dem Haus kommt und zu uns ´rüber stapft.
"Vill du fika?" ruft er und wir schauen ihn entsetzt an. Um Himmels willen, was meint er?! Unsicher nicken wir und er sperrt umständlich den Schuppen auf. Wir gehen mit Leif in die kleine Hütte. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln füllt er die Filtermaschine mit frischem Kaffee und während die zu tropfen beginnt, schauen wir uns um.
Leif ist eigentlich Juwelier und in der Hütte ist jeder Zentimeter mit den hübschesten Schmucksachen vollgestellt. Viele der silbernen Preziosen enthalten Steine aus der Umgebung oder winzige Rentierknochen.
Wir können uns kaum sattsehen aber nun ist der Kaffee fertig. Leif füllt mit großem Ernst zwei Häferl seines schönen Blumen-Service für uns und wir bitten noch um zwei dieser großen Kokoskugeln, die seine Frau selber macht.
Wir jausnen draußen im Sonnenschein, während er sein Café wieder versperrt und im Wohnhaus verschwindet. Die Hitze flirrt bei 17°C und wir schwitzen während dem Fika glücklich in unsere Merino-Sachen. Hier lesen wir von der schwedischen Kaffeekultur, die jener der Wiener um nichts nachsteht!
Aber nun wartet der nächste Höhepunkt auf uns. Es geht auf dem RV99 den Torneälven entlang. Der breite und 400 km lange Fluß bildet die Grenze zu Finnland! Die nächsten 40 km cruisen wir übers flache Land. Weite Felder wechseln mit schütteren Birkenwäldchen. Richtung Arktis wird die Landschaft unspektakulärer und die Häuser einfacher.
Mal fließt der Grenzfluss ruhig und träge dahin, mal sprudelt er in wilden Stromschnellen gen Süden. Ab und zu sehen wir eine winzige Insel in der Flußmitte, auf der zwei oder drei Birken Platz gefunden haben. Wir schauen ´rüber nach Finnland, dort werden wir morgen sein! Mittlerweile hat es zu nieseln begonnen, aber nicht genug fürs Regenzeug.
Hier sehen wir unser erstes Rentier des Urlaubs! Ganz schüchtern tritt das weiße Tier aus dem Wald. Kaum sieht es uns, verschwindet es wieder im Unterholz. Wir schaffen nur ein unscharfes Foto mit der Helmkamera. Es muss noch viel lernen, um wie seine Artgenossen lebensmüde jedem nahenden Fahrzeug mitten auf der Straße entgegen zu stolpern!
Schon sind wir in Juoksengi und wir halten Ausschau nach, ja nach was eigentlich? Wir haben vorher nicht geguckt, wie der Polarkreis in der ärmlich wirkenden 300-Seelen-Gemeinde ausschaut! Aber winzige Hinweisschilder am Straßenrand zeigen in Fahrtrichtung. Plötzlich sind wir da. Um Punkt 14:00 überqueren wir den Polarkreis und stehen in der Arktis!
Wir wollen hier Pause machen und viele Fotos. Angelika fräst mit ihrer Transalp über den aufgeweichten Boden und pflanzt sich unter dem berühmten Schild auf. Didi sucht eine gute Position am Globus, der hier seit wenigen Jahren steht. Ein Kreis hoher Flaggen mimt Internationalität. Der Arctic Circle wird durch einen einfachen Holzpfahl markiert.
Wir haben Hunger auf Fast Food und Kaffee! Doch vor allem wollen wir das Polarkreis-Diplom kaufen! Jenes, das wir vor zwei Jahren am Saltfjellet/Norwegen erstanden haben, schmückt bereits die Reiseecke zuhause. Wir stiefeln fröhlich zum Polarkreiszentrum, ein hübsches Haus mit einer kleinen Terrasse.
"Geschlossen bis 17.00 Uhr" steht auf dem Schild. Darf das jetzt wahr sein? Vorsaison hin oder her, aber tut das Not?! Wir finden, Tourismus können die Norweger besser! Missmutig pflanzen wir uns auf die Terrasse und reißen eine Kekspackung auf. Was nun? Drei Stunden warten?
Wir können uns nicht so recht entschließen aber plötzlich nimmt uns das Wetter die Entscheidung ab. Der Niesel holt seinen großen Bruder und der ist ziemlich schlecht drauf! Wir winden uns blitzschnell ins Regenzeug, bevor wir mit schlingernden Reifen diesen ungastlichen Ort verlassen. Das Schönwetter Schwedens hat nicht lange gehalten!
Wir düsen im Starkregen durch Lappland, immer an der schwedisch-finnischen Grenze durchs geschichtsträchtige Tornedalen. Meine Güte, ist es hier einsam! Die nächsten 80 km gibt es kein nennenswertes Zeichen von Zivilisation auf der schmalen und schnurgeraden Straße gen Norden! Uns wird kalt.
Es regnet ohne Pause, als wir in Pajala unter das Dach einer Tankstelle flüchten. Für die Transalps kaufen wir 95 Blyfri und für uns ein paar süße Kleinigkeiten für die Seele. Am Weg zum Campingplatz schauen wir noch nach der größten Sonnenuhr der Welt, die hier am Hauptplatz steht.
Also stehen wird, denn in der Vorsaison ist nur der eiserne Rumpf zu sehen und auch der Platz wird gerade saniert. Der Zeiger liegt wohl noch im Lager und die Pflasterwürfel liegen verstreut am Boden. Wir haben mittlerweile den Eindruck, dass ganz Schweden erst am 1. Juni aufsperrt!
Um 17:00 entern wir im Starkregen die Rezeption am Campingplatz und werden von Ragnar Lothbrok eingecheckt. Der Wikingerfürst übergibt uns auch den Code für das Duschhaus, den wir demütig in Empfang nehmen. Das angebotene Eis lehnen wir höflich ab, weil uns ist kalt und ungemütlich. Jetzt steht Ragnars breites Grinsen in krassem Gegensatz zu seiner Erscheinung!
Nach der Abendroutine mit Heizung aufdrehen, Kette schmieren, Motorradsachen trocknen, Travellunch, Duschen (Didi) und Wienerbrød (Angelika) studieren wir auf der Karte den Track für den nächsten Tag. Unser Plan ist, quer durch Finnland Inari zu erreichen. Vielleicht ein Abstecher zur russischen Grenze, für ein heimliches Foto?
Wir wissen, dass auf diesen 300 Kilometern ein ordentliches Stück unasphaltierter Weg durch den Wald verläuft. Sinnierend schauen wir aus dem Hüttenfenster in die trübe und unwirtliche Arktis, während der Regen lautstark aufs Hüttendach hämmert und der Campingplatz im Nebel verschwindet.
Es ist draußen kalt geworden, während die Heizung auf Volllast arbeitet. Der Wettertyp aus dem TV prognostiziert in schwedischem Singsang lächelnd Katastrophenwetter. Und jetzt verlässt uns der Mut. Oder die Motivation. So eine lange Tagesetappe? Offroad im Schlamm? Bei diesem Wetter?
Und so tun wir, was wir noch nie zuvor taten: Wir ändern die Route, wir entwickeln Plan B. Es dauert ein wenig, bis wir mit unserer Entscheidung, Inari auszulassen, zufrieden sind. Aber bei der zweiten Tasse Kakao ist alles gut. So machen wir das! Kautokeino ist doch auch ein schönes Ziel?
Tageskilometer: 330 km
Hier geht die Reise bald weiter: >klick
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