22. Tag: Hurtigruten - Kristiansund - Eidsvåg

Ist euch schon mal aufgefallen, dass ihr nur selten davon lest? Gesundheitliche Probleme auf Tour? Kein spektakulärer Sturz, den man vielleicht noch beifallheischend auf Youtube stellt. Sondern einfach körperliche Schwierigkeiten, die das Weiterfahren unmöglich machen. Dinge, die Motorradfahrer gerne verschweigen, oder?

Doch ihr kennt uns, wir schreiben kein Heldenepos. Manchmal ist man mit seinem Latein halt am Ende und alles wird zuviel. Wenn euch das interessiert, dann lest weiter. Wenn nicht, dann wartet auf den nächsten Tag!

Als der Wecker läutet, ist die Katastrophe perfekt. Was nie passieren dürfte, ist passiert! Angelika kann sich vor lauter Schmerzen nicht mehr bewegen. Alle Maßnahmen der letzten zwei Tage waren vergebens, ihr rechter Arm ist gänzlich unbrauchbar. Schon die kleinste Bewegung lässt Angelika in die Knie gehen. Wir sind schon kurz vor und nach einer Operation mit offenen Wunden auf Tour gegangen, sowas können wir. Aber das hier ist eine andere Nummer: Ohne rechten Arm geht es nicht!

Schnell wird klar: Sie schafft es nicht, sich anzukleiden und nach einer Morgentoilette zum Frühstücksbuffet zu wandern! Didi wird sofort aktiv und eilt in den Frühstücksraum. Er frühstückt schnell, richtet einige belegte Brote und erbittet in der Küche einen Sack mit Eiswürfel. Die Crew hilft sofort mit Routine, wo sie nur kann.

Währenddessen liegt Angelika bewegungslos in der Kabine und starrt an die Decke. Nur mehr sieben Stunden bis Kristiansund. Was sollen wir tun? Sie kämpft mit Wut und Verzweiflung. Doch Schmerzen machen Angelika üblicherweise zornig, denn mit Weinerlichkeit kommt man nicht weiter! Diese Motorradtour wird nicht in Kristiansund enden, 2.500 km von zuhause entfernt!

Didi bringt Frühstück und Eisbeutel und während Angelikas Schulter langsam einfriert, mampft sie die dick belegten Sandwiches. Wenn die Lage schon hoffnungslos ist, dann wenigstens nicht hungrig. Die eisige Erstmaßnahme scheint zu helfen und irgendwann kann sie sich doch fluchend ins Motorradzeug winden und zumindest die Zähne putzen. Jetzt stiefeln wir auf Deck 7 zum Lieblingsplatz. Während Didi zwei Cappuccini beschafft, wirft sie Google an. Sauteuer an Bord, aber das ist nun egal.

Hektisch recherchiert sie das norwegische Gesundheitssystem. Gibt es in Hafennähe keinen Arzt, der auf die Schnelle helfen kann?! Didi hat eine gute Idee: Ab zur Rezeption! Der liebenswürdige junge Mann wird sofort aktiv. Nein, Bordarzt gibt es keinen aber er telefoniert kurz und zackig und nur Augenblicke später hat Angelika einen Spitalstermin: 17:00, "Bryggen Medical Center". Wir könnten nicht dankbarer sein. Jetzt wird alles gut!

Doch manchmal hat sich alles gegen einen verschworen. Jetzt kommt nämlich Sturm auf! Die "Richard With" arbeitet mit ihren 12.200 Diesel-PS kräftig dagegen und hält Kurs hart am Wind. Nur ab und zu bäumt sie sich vorne auf und knallt auf der Rückseite der Welle ins Wasser. Es ist ein spektakulärer Ritt!

Nur haben wir ein Problem. Die Zeit läuft und der Seegang arbeitet gegen uns! Die Höchstgeschwindigkeit von 35 km/h erreichen wir nicht mehr! Unruhig schauen wir ständig auf die Uhr. Wir werden den 17:00-Termin im Spital keinesfalls schaffen! Und zu allem Unglück fängt es auch noch zu regnen an.

Es ist 17:30, als wir mit einer Stunde Verspätung in Kristiansund mit dem Bordlift ins Freie fahren. Wir haben das Regengewand übergezogen und den Weg ins Spital auswendig gelernt. Jetzt aber schnell! Angelika hat ihren rechten Arm am Lenker fixiert. Ohne Rücksicht auf Verkehr oder schlechte Sicht brettern wir durch Kristiansund und halten nur kurz später vor dem Spital. Der große moderne Bau ist unbeleuchtet.

Während Didi bei den Motorrädern bleibt, eilt Angelika hinein. Keine Menschenseele zu sehen. Lange Gänge und viele Stockwerke später steht sie ratlos mitten in der Intensivstation. Zwei erschrockene Krankenschwestern schauen sie überrascht an. Ah, die Schulter von den Hurtigruten! "Sie sind hier falsch, sie müssen nach unverständliche Wortfolge aus norwegischem Englisch." Sie notieren eine Notfallambulanz am Rande der Stadt: "LEGEVAKT".

Im Laufschritt und schmerzverzerrt eilt Angelika zurück zu Didi. Wir sind hier falsch, brüllt sie durch den Regen! Los, aufsitzen! Schnell weiter! Mittlerweile schüttet es kräftig. Wenn das Karma kaputt ist, dann richtig...

Nach einiger Zeit hat Didi das schmucklose Gebäude ohne Aufschrift gefunden und wir laufen hinein. In der menschenleeren Notfallambulanz warten wir fast eine Stunde, während wir stumpf vor uns hin starren. Um 19:00 erbarmt sich eine junge Ärztin und untersucht Angelika. Alleine das Aus- und Anziehen von vier Schichten Motorradzeug ist eine Herausforderung!

Angelika kommandiert, was zu tun ist: 2-3 Spritzen mit Cortison und Hyaluron direkt ins Gelenk, Supraspinatus, vorne und hinten. Los, geht schon! Die Ärztin gibt nach ... und reicht einen handgeschrieben Zettel: Das Medikament müssen wir selbst in der Apotheke holen. Fassungslos reißt Angelika den Zettel an sich, stumme und gotteslästerliche Flüche ausstoßend. Was seid ihr bitte für Notfallärzte?!

Also Regenzeug wieder anziehen, raus in den Regen, rauf aufs Motorrad und die Apotheke suchen. Ein entferntes Einkaufszentrum, viele Stockwerke. Was für ein Alptraum! Die dritte Apotheke ist die richtige! Angelika steht tropfnass und schwitzend an der Theke und wartet. Der arrogante Apotheker - er trägt das Namensschild des Chefs an seinem weißen Mantel - lässt sich ewig Zeit, weil er erst mit der Notärztin telefonieren muss. Angelika hegt Mordgedanken, aber nur ein falsches Wort und Mats rückt das Medikament nicht raus!

Didi wartet währenddessen in der Finsternis draußen und bewacht tapfer die Motorräder im Regen. Um 20:00 sind wir wieder im "LEGEVAKT". "Wenn ich die Nadeln jetzt auch aus der Apotheke holen muss, dann stehen wir morgen garantiert am Titelblatt des "Dagbladet", schwört Angelika mit Grabesstimme. "Noch länger warten und ich spritz mir das Zeug selbst!"

Hier im Wartesaal verlässt sie nun der Kampfgeist der letzten Tage. Plötzlich erscheint alles zu viel: Schmerzen, untätige Ärzte, Motorradfahren müssen, fremde Stadt, Starkregen. Wir sollen heute noch 80 km in die Unterkunft? Das geht so nicht und schon gar nicht bei diesem Wetter. Es ist schon zu spät! Wie soll das weitergehen, fragt sie entmutigt. Die Lage ist so trostlos. Eine dunkle Stunde.

Aber ein kleines Blutbad und einige Spritzen später ("Do you want the full dose?" "WTF DO YOU THINK?!"), stehen wir schweigend am Parkplatz und rauchen. Es ist düster, es regnet und wir haben noch gut zwei Stunden Fahrt vor uns. Lass uns doch hier übernachten! Morgen ist ein neuer Tag. Wir kennen seit 2017 sogar einen Campingplatz! Doch Didi besteht auf "Stick to the plan!": Dann trinken wir unseren Frühstückskaffee morgen am richtigen Ort.

Es ist 20:30, als wir Kristiansund vier Stunden später als geplant verlassen. Die Infiltrationen wirken und Angelika kann sachte den Gasgriff halten. Es schüttet und die Sicht könnte nicht schlechter sein. Jetzt nur auf schnellstem Weg ins Hotel!

Und dann passiert es: Wir verfahren uns, mehrmals. Warum wir nicht einfach über die Gjemnessundbrücke Kurs Süden gefahren sind? Keine Ahnung. Wir waren uns so sicher, den Weg zu kennen, dass wir unsere "Honda Road Sync" - Bordnavi gar nicht aktiviert hatten! Nun, das ging gründlich schief.

Im Starkregen brausen wir frierend viel zu lange Richtung Norden, bis uns der Irrtum auffällt. Ach du meine Güte, umdrehen! Alles zurück! Angelika ist fertig mit der Welt. Das darf doch alles nicht mehr wahr sein!

Wir haben wegen Müdigkeit und schlechter Sicht komplett die Orientierung verloren! Irgendwie finden wir über verschlungene Umwege den Weg nach Båtnfjordsøra (wo uns die Tankstelle vor der Nase zusperrt) und nach Eidsvåg. Aus 80 geplanten Kilometern werden etwa 140.

Wir haben nichts von der Umgebung gesehen, aber das wäre eine wunderschöne Stecke gewesen! Nicht ganz so schön allerdings, wie die einladende Beleuchtung des NETTO-Supermarkts in Eidsvåg, der bis 23:00 geöffnet hat. Schnell rein und ein Abendessen checken. Bier? Das gibt es hier nur bis 21:00! Jetzt ist es Didi, der flucht. Norwegen und Alkoholverkauf, ein eigenes Kapitel...

Es ist 23:30 Uhr, als wir vor unserem Hotel stehen. Ein prächtiges, altes, weißgekalktes Holzhaus. Wir sind alleine. Die Vermieter sind längst nach Hause gefahren, sie haben uns mit einem lieben Brief die Schlüssel hinterlegt.

Nach einer kleinen Jause starten wir um Mitternacht noch die großen Kakao- und Kaffeemaschinen im Restaurant und Didi plündert den Bierkühlschrank hinter der Bar. Wir melden das morgen! Die werden sicher nicht böse sein.
Das war - verzeiht! - ein richtig beschissener Tag. Möge morgen alles gut sein!

Tageskilometer: 143 km

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PS.: Das Medikament kostete 2,50 EUR und der Bezahlterminal in der Ambulanz hat die 25 EUR Behandlungskosten nie von Angelikas VISA-Card abgebucht...

Gesundheitliche Probleme auf Tour?

spannend

das klingt fürcherlich! sowas ist beim motorradfahren eine katastrophe iund dann in einem land, dessen sprache man nicht spricht.

ich finde, ihr habt das gut gemeistert! das regenwetter danach war noch das i-tüpfelchen des tages. schlimm!
bin echt neugierig, wie es weiterging!

dlzg der rider

OH!

Ach du liebes Bißchen, jetzt ist es klar. Was war denn das Problem letztendlich?

Das braucht man wirklich nicht auf Tour. Sowas ist schon zuhause nicht lustig. Ihr habt es sehr gut beschrieben, wie es einem da geht, finde ich!

Jetzt bin ich aber gespannt, wie es weiter geht!
LG TinA

Unglaublich...!

Das war ebenso unglaublich wie mitreißend zu lesen. Das Leben schreibt die besten und die schlimmsten Geschichten.
Das Schmerzmittel hat also geholfen. Dass man Medikamente selbst aus der Apotheke holen und bezahlen muss kenne ich als Privatpatientin auch. Impfstoffe zum Beispiel. Teures Zeug, von wegen 2,50 Euro.

< Doch Didi besteht auf "Stick to the plan!"
Am nächsten Tag ist man so dankbar dafür :-)))

Mehr Drama brauchen wir jetzt aber erstmal nicht. Möge die Schulter von jetzt an und für immer schweigen!

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zuletzt aktualisiert am 18.12.2024