Wir düsen mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit dahin. Es ist später Vormittag und mit 24°C schon ziemlich warm. Wir haben die einfache Hütte um 10:00 verlassen und sind ohne Frühstück aufgebrochen. Unsere Route führt uns parallel zur russische Grenze gen Süden. Wir sind auf der Suche nach etwas Essbarem!
Der Rv387 - wie die Via Karelia hier heißt! - ist gekennzeichnet durch eine mitunter sogar kurvige Streckenführung. Die Bäume sind höher als in den letzten Tagen und immer häufiger fahren wir an weiten Wiesen und Landwirtschaften vorbei. Wir sehen seit langem sogar wieder hübsch schwarzweiß-gefleckte Kühe auf der Weide. Südkarelien ist bäuerliches Gebiet!
Nach etwa 50 km machen wir einen kurzen Halt, um die müde gewordenen Knochen auszustrecken. Wir stehen vor der Joutsenkoski Mühle, die hier 100 Jahre lang zuerst für Rußmehl (Schießpulver für Russland!) und später für Holzbretter (Singer-Nähmaschinen für die USA!) sorgte. Leider sehen wir heute nichts von den spektakulären Stromschnellen, die hier aufgestaut wurden und das rote Häuschen steht ganz alleine und verlassen im Wald. Die Mühle wurde vor 70 Jahren aufgegeben.
Es sind nur mehr wenige Minuten bis Vaalimaa und schau! Da sind wieder die bekannten gelben Straßenschilder mit der Kamera und der Aufschrift "Rajavartiolaitos". Das ist keine Ankündigung zur Radarmessung - die man unter Umständen ignorieren könnte. Hier warnt man vor Grenzschutzeinrichtungen und diese Kameras ignoriert man besser nicht!
Wir drosseln das Tempo und schauen in die zunehmend unattraktive Gegend. Hier wurde betoniert und planiert und nochmals betoniert. Wir tuckern an aufgelassenen Cafés, einem ziemlich abgewrackt wirkenden Einkaufspalast namens "Zsar Outlet Village" und mehreren zugesperrten Bistros vorbei. Hier gibt es kein Frühstück. Zahlreiche Billigläden wurden hier lieblos in die Landschaft geklatscht. Dazu LKW-Parkplätze so weitläufig wie Flugfelder.
Typische Grenzgegend, in all ihrer düsteren, grauen Depression! So kennt man sie an vielen ehemaligen Ostgrenzen zB zwischen Österreich und Tschechien. Hier jedoch ist nichts ehemalig! Im Gegenteil! Wir schalten unsere Body-Cams lieber aus und stecken sie in die Jacke.
Diese Grenze zu Russland ist nämlich die erste auf dieser Tour, die mehr ist, als ein löchriger Maschendrahtzaun irgendwo im Wald. Hier fährt man das volle Programm, man rüstet auf. Viele chromblitzende Kameras flüstern lautstark: Hier meint man es ernst und in Zeiten wie diesen ganz besonders. Es sind nur 200 km bis St. Petersburg. Dort endet die berühmte Europastraße E18!
Infobox
Unzählige Motorradreisende sind wohl schon Abschnitte dieser berühmten 1.880 km langen Straße gefahren. Sie beginnt in Nordirland, führt über Belfast und eine Fähre nach Schottland. Sie quert Großbritannien bzw. Südschottland bis Newcastle upon Tyne. Weiter geht sie nach Norwegen über Kristiansand und Oslo an die schwedische Grenze.
Schweden wird direkt durchquert. Man kommt an Karlstad vorbei und natürlich Stockholm und erreicht mit der Finnlines-Fähre bei Turku finnischen Boden. Über Helsinki und die Grenze - bei der wir nun stehen! - nach Russland führt die E18 bis St. Petersburg, ihrem historischen Ende.
Wir kehren dieser Grenze, die so wenig einladend wirkt wie derzeit das Land, das dahinter liegt, den Rücken und rollen bedächtig weiter Richtung Westen. Plötzlich deutet Didi mit großer Geste auf seinen Tank. Oh, Benzin ist alle! Wir brauchen dringend Nachschub!
Zum Glück erkennen wir nach nur sieben Kilometern im Örtchen Virolahti eine Tankstelle und kurven schwungvoll über den Kreisverkehr mitten ins Ortzentrum. Während wir die Tanks bis zur Oberkante anfüllen, beobachtet Angelika mit knurrendem Magen das Treiben da drüben. Ist da ein kleiner Bauernmarkt im Gange? Gibt es dort ein Frühstück?
Ja klar! Es ist Samstag, 12:00. Wochenmarkt in Virolahti! Nicht die große Show wie in österreichischen oder deutschen Städten, sondern nur 2-3 kleine Tische, um die sich kauffreudige Interessenten scharen. Einige Sonnenschirme laden zum Verweilen ein. Schnell erledigen wir das Tankgeschäft und schon rollen wir hinüber, stellen die Transalps in den Schatten, werfen die Jacken drüber (es hat mittlerweile verschwitzte 28°C°) und stiefeln zum ersten Tisch.
Eine kleine, rundliche Frau mit ausladendem Sonnenhut und einfachem Arbeitsgewand bietet ihre Spezialitäten feil. Sie spricht nur bruchstückhaft Englisch und wir immer noch kein Finnisch, aber das Gebäck schaut lecker aus und wir nehmen reichlich. Sie redet wie ein Wasserfall! Vermutlich erklärt sie uns das Rezept ihres "Kukko", das sie stolz präsentiert. Wir verstehen kein Wort und lassen uns einfach alles einpacken, was uns gefällt.
Mit diversen Tüten und zwei Bechern Kaffee suchen wir uns einen kleinen Tisch und machen es uns gemütlich. Wir haben den Imbiss-Stand fast leergekauft und die kleine Händlerin eilt zu ihrem dottergelben VW-Käfer, um aus großen Kisten Nachschub zu holen, während wir gierig leckere Teilchen mampfen, die uns an kalte Pizza erinnern. Flaumiger Teig, würzig belegt. Da kann nix schiefgehen!
Es dauert nicht lange - wir haben uns noch Kuchen gekauft - da möchte sich die kleine Frau zu uns setzen. Aber klar! Gerne! Wir schlürfen zu Dritt starken Kaffee aus Pappbechern, während sich das unglaublichste Gespräch dieser Reise entwickelt. Nur Minuten später haben wir einander unsere Geschichte, unsere Berufe, unsere Wünsche und unsere Pläne erzählt. Sie träumt von einer Reise nach Frankreich. Ihre einzige Reise bisher führte nach Lappland, zu ihrer Schwester...
Als neue Kunden eintreffen, muss die Bäuerin, die auf Wochenmärkten in der Umgebung ihre Ware feilbietet, kurz arbeiten gehen. Wir beobachten sie. Sie wirkt einsam aber zufrieden. Man kennt sich hier und offenbar mag man sie. Viele freuen sich, sie zu sehen!
Als wir unser Zeug zusammenpacken und den großen "Kukko" ins Topcase stopfen, eilt sie nochmals herbei. Ob wir ein Foto machen könnten? Damit sie uns nicht vergisst? Aber ja natürlich! Wir machen ein schnelles Selfie und dann umarmt sie uns fest und innig. Als sie sich abwendet, laufen ihr die Tränen übers Gesicht und wir sind etwas verlegen. Noch einmal kurz gedrückt, alles Gute und Gesundheit gewünscht und dann sind wir weg.
In irgendeinem Blog haben wir eine Empfehlung für den Rv3513 "Kuninkaantie", den "Königsweg" entdeckt und der beginnt genau hier! Wir lasen von der ältesten mittelalterlichen West-Ost-Achse Finnlands, dem Post- und Handelsweg vergangener Zeiten. Von alten Kirchen und Gutshöfen, die am Rv3513 zu sehen sind.
Aber ganz ehrlich? Es interessiert uns heute nicht! Wir wollen einfach nur Motorradfahren und wir hoffen auf die versprochenen Kurven an engen Wegen! So etwas wäre in Finnland die allergrößte Sehenswürdigkeit und Rarität!
Oh, es ist großartig! Kaum haben wir Virolahti verlassen, geht es in wildem Bergauf und Bergab kurvig dahin. Der Königsweg ist ein schmaler Weg und der Asphalt sah schon bessere Zeiten. Wir schlingern begeistert von Schlagloch zu Schlagloch und nehmen so manche Kurve ein wenig zu übermütig. 35 km reinster Kurvenspaß auf finnisch!
Als uns nach 20 km das erste Auto entgegenkommt und wir den Schrecken in den Augen des Fahrers sehen können, entschuldigen wir uns fröhlich und wählen eine artigere Fahrweise. Das hat Spaß gemacht!
Und weil wir den letzten Fahrtag in Finnland ausnutzen wollen, kurvt Angelika ohne weitere Vorbereitung links diesen kleinen Schotterweg hinunter. Sie hat während der wilden Fahrt auf der Karte am Tankrucksack einen kleinen Campingplatz im Wald entdeckt. Dort gibt es gewiss Kaffee und Kuchen, oder?
Nur wenige Kilometer und wir paddeln bei "Hamina Camping" unsere Transalps in den Schatten. Puuhhh, heiß ist es. Immer noch fast 30°C! Wir sind vollkommen verschwitzt und brauchen eine Pause mit Hotdogs und Limo! Ein entzückendes Mädchen bastelt unsere Jause, während wir mit einem bärigen Finnen plaudern, der hier übers Wochenende eingecheckt hat. Er sucht Erholung von seinem Job und dieser Campingplatz ist sein zweites Zuhause geworden. Was für ein herzlicher und lustiger Typ!
Er war es auch, der uns einen Blick auf Finnlands größte Flagge empfohlen hat. Sie steht seit 2019 unweit von hier am Ufer der Ostsee in Hamina! Kurz später parken wir vor dem 100 Meter hohen Ungetüm finnischen Nationalstolzes, jeder Meter repräsentiert ein Jahr Unabhängigkeit von Russland.
Es fühlt sich seltsam an, dass die Geschichte von Nationen, von Stolz und Leid, von Krieg und Unabhängigkeit und wieder Krieg manchmal so labil und gebrechlich wirkt und manche Symbole der Vergangenheit heute wieder so grässlich aktuell sind. Das denken wir, während wir sportlich uniformierte Soldaten beobachten, die federnd im Gleichschritt rund um den meterdicken Fahnenmast joggen. Angefeuert von der hellen Stimme ihrer Trainerin.
Wir stehen in der prallen Sonne und schwitzen. Lass uns weiterfahren! Angelika hat in ihrem "GT Tiekartasto" noch eine kleine Sehenswürdigkeit entdeckt. Die nehmen wir noch mit! Motiviert wählen wir nun die E18, die berühmte Europastraße. Wir wollen ein wenig Zeit sparen.
Eine dreispurige Autobahn, wie man sie auch bei uns kennt, führt direkt ins Stadtgebiet von Kotka und da ist es auch schon angeschrieben: Langinkoski! Noch ein paar Meter durch eine anonyme kleine Siedlung und schon paddeln wir die Transalps in den dürftigen Schatten eines weitläufigen Busparkplatzes.
Plötzlich haben wir Stress. Aus den Augenwinkeln sehen wir hinter uns einen gewaltigen Reisebus auf den Parkplatz schippern. Jetzt aber schnell! Was immer das hier kann, wir wollen es nicht mit einer Reisegruppe von "Europe in 10 days" teilen! Wir werfen die Motorradjacken über die Sitzbänke und eilen den kleinen Weg hinunter zum Fluss.
Ohne weitere Verzögerung besetzt Angelika den besten Sitzplatz im winzigen "Café Dagmar" und Didi checkt Apfelkuchen und Kaffee. Wir mampfen schon engagiert, als die quirligen Seniorengruppe den Weg herunterwuselt und rastlos Richtung Museum eilt. Jetzt haben wir Zeit, uns zu informieren, wo wir hier eigentlich sind: Die Fischerhütte des Zaren!
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Der russische Zar Alexander III. kam an die Macht, nachdem sein Vater bei einem Attentat ermordet wurde und sein älterer Bruder mit 21 Jahren an ungeklärten Krankheiten verstorben war. Trotz harter Innenpolitik regierte er von 1881-1894 als Friedenskaiser ohne Kriege.
Er heiratete Dagmar von Dänemark, die Verlobte seines Bruders. Der arme Mann war noch vor der Hochzeit verstorben und Dagmar musste nun mal einen Zaren heiraten! Die Ehe war aber außergewöhnlich glücklich. Die häusliche Dagmar legte viel Wert auf Familiensinn und ein harmonisches Privatleben und die Romanows verbrachten mit ihren sechs Kindern lange und glückliche Sommerurlaube in Langinkoski.
Zar Alexander wurde nicht alt. Er starb mit 49 Jahren an den Spätfolgen einer mutigen Rettungsaktion nach einem Zugsunglück, bei der er sich schwer verletzte. Sein ältester Sohn Nikolaus "Nicky" Romanow wurde sein Nachfolger und der letzte Zar von Russland...
Nachdem wir den letzten Bissen vom Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült haben, schlendern wir über das kleine Gelände, bewundern die wilden Stromschnellen und neben einigen kleineren schöngeschnitzten Gebäuden das dekorativ-wuchtige Holzhaus der Zarenfamilie. Man nennt es "Fischerhütte" aber das trifft es wohl nicht ganz...
Auch die kleine Lachsfalle, in der man bequem fischen konnte, scheint noch intakt. Als wir wegen der hohen Luftfeuchtigkeit im sumpfigen Unterholz vollends durchgeschwitzt sind, stiefeln wir wieder zu unseren Motorrädern.
Ein Blick auf die Karte sagt uns, dass es noch 120 km Autobahn bis zu unserem Campingplatz sind. Wir schauen uns an. Eigentlich haben wir heute schon genug! Aber der Rv170 führt parallel und der ist vielleicht spannender? Weißt du was, wir probieren den und machen bei Halbzeit noch eine Rast, oder?
Mit einer gewissen Lustlosigkeit ziehen wir nun zügig unsere Bahnen über die kleine aber unspektakuläre Landesstraße. Dieses Gefühl begleitet uns manchmal gegen Ende von längeren Touren. Man hat alles gesehen, alles erlebt, alles gefunden, was man gesucht hat und trotzdem sind noch einige Tage übrig! Wir sind müde, als wir bei einer weitläufigen "Neste"-Tankstelle bei Koskenkylä zwei fett belegte Lachsbrötchen mampfen.
Jetzt fällt die Entscheidung für die Autobahn E18. Wir freuen uns schon auf den Campingplatz in Helsinki, von dem wir uns viel versprechen, und geben Gas. Nach so viel Tagen mit Tempolimits weit unterhalb unserer Gewohnheitsgrenze macht es Spaß, die Hondas mit 120 km/h über die Autobahn zu jagen! Nur kurze Zeit und einen kleinen Lebensmitteleinkauf später sind wir da.
Das Navi von Googlemaps hat perfekt funktioniert und den kürzesten Weg durch Südost-Helsinki in Angelikas Ohrstöpsel gebrüllt. Alles hat geklappt und nun stehen wir vor der hypermodernen Rezeption von Rastila Camping. Die Leute hier sind professionell geschult und erledigen ihren Job automatisiert-freundlich.
Schon tuckern wir über den Platz und suchen unsere Hütte. Dies is kein normaler Campingplatz! Dies ist ein mehrere Fußballfelder großer Wohnmobilpark mit Hüttendörfern und dazwischen weitläufige Zeltwiesen. So gewaltig groß, dass es gar nicht auffällt, dass man bereits in der Stadt ist! Wir fahren eine Zeit lang bis in die hintere ruhige Ecke, wo wir Hütte Nr. 702 entdecken. Wow! Was ist das für ein hübsches Häuschen!
Wir beeilen uns, unser Zeug für drei Nächte in die Hütte zu zerren, denn es scheint noch die Sonne! Es geht sich gerade noch aus, einen Kaffee und ein paar Kekse auf der Terrasse zu genießen, bevor es schnell dämmrig-kalt wird. Macht nichts! Wir sind sowieso ziemlich erledigt. Nur noch rasch ein Travellunch löffeln und dann gehen wir auch schon schlafen. Wir sind neugierig auf Helsinki aber das ist etwas für morgen...
Tageskilometer. 260 km
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